Ein neues Echtzeit-Strategiespiel im Jahr 2020, welches auf Tradition statt Trends setzt? Ja, auch wenn das Genre fast schon ausgestorben wirkt, veröffentlichen der deutsche Entwickler King Art Games und Publisher Deep Silver mit Iron Harvest ein klassisches RTS, nachdem gefühlt nur noch X-COM-Klone den Strategiemarkt dominieren. Basierend auf der World of 1920+ Lizenz, versetzt uns das Spiel in eine alternative Vergangenheit, in der sich nicht nur Pickelhauben und Bajonetts in den Kampf stürzen, sondern auch haushohe Mechs. Ob der Titel die Rückkehr des RTS-Genres einleiten kann oder doch eher in der Vergangenheit stecken geblieben ist, erfahrt ihr bei uns im ausführlichen Test.
Wir befinden uns in den 1920ern. Der große Krieg, der vor einigen Jahren die ganze Welt erschütterte, ist mittlerweile durch ein Friedensabkommen zwischen den beteiligten Nationen Geschichte, doch die Nachwirkungen und die zahlreichen Verluste zerren immer noch an den Bevölkerungen. Besonders hart hat es Polania getroffen, welches mittlerweile zum politischen und territorischen Spielball für die beiden Kaiserreiche von Saxony und Rusviet geworden ist. Denn immer noch befinden sich ein Teil der Besatzungen beider Länder auf dem Boden Polanias, was in den betroffenen Regionen für Unmut und vor allem Widerstand sorgt. Während die eigene Regierung die Füße stillhält, um die Waffenruhe nicht zu gefährden, werden immer wieder Dörfer überfallen und Personen entführt. Dieses Schicksal erfährt auch die junge Anna, als ihre Heimat eines Tages von rusvietischen Truppen heimgesucht wird, die alles auf den Kopf stellen, um einen gewissen Professor zu finden. Schnell entpuppt sich Annas Vater als der gesuchte Mann, der vor etlichen Jahren zusammen mit dem legendären Nikola Tesla an experimentellen Maschinen gearbeitet hat und seitdem unter neuen Namen als einfacher Mechaniker gelebt hat. Um ihren Vater aus den Fänger der Rusviets zu befreien, muss sich Anna dem Widerstand anschließen, doch steht nicht nur die Freiheit ihres Vaters auf dem Spiel, sondern die von ganz Polania.
Das Echtzeit-Strategiespiel Iron Harvest führt uns in eine alternative Welt, in der nicht Panzer die Schlachtfelder dominierten, sondern dieselbetriebene Mechs. Gameplay-technisch ordnet sich der Titel dabei irgendwo zwischen Warhammer 40.000: Dawn of War und Codename: Panzers statt bei Command & Conquer und Star Craft ein. Das heißt, wir verfügen nicht über Massen an Einheiten, mit denen wir unsere Feinde überrennen können, das taktische Nutzen von Deckungen und Positionen ist überlebenswichtig, Basisbau ist zwar vorhanden, aber auf das nötigste reduziert und statt Sammler auf Ressourcenfelder zu parken, heißt es Punkte einzunehmen und auch diese zu halten. Herzstück des Spiels sind die drei Kampagnen, die sich jeweils über sieben Missionen erstrecken und uns in die Rolle der drei verschiedenen Fraktionen hineinversetzen. Das wären einmal Polania, Rusviet und Saxony, die jeweils fiktive Versionen der polnischen Republik, des russischen und deutschen Kaiserreichs darstellen. Alle drei Handlungsstränge sind packend inszeniert und bieten einiges an Herausforderungen für den Spieler, mit abwechslungsreichen Haupt- und Nebenmissionszielen. So müssen wir einen Zug durch einen engen Bergpass begleiten, um in der nächsten Stadt eine Evakuierung der Zivilbevölkerung anzuführen, was mit einer spontanen Suchen & Zerstören-Aktion endet. Die Karten laden uns dabei dazu ein, dass wir unseren eigenen Weg zwischen all den Straßen und Wegen suchen. Entweder brechen wir mit voller Stärke durch die Front oder umgehen mit Fußsoldaten diese auf Schleichwegen, um dann hinter feindlichen Linien für Chaos zu sorgen. Alleine müsst ihr übrigens dabei nicht vorgehen, denn das komplette Spiel lässt sich auch mit einem Coop-Partner bestreiten. Dieser Modus war jedoch zum Test noch nicht verfügbar, weswegen wir hier keine ausführliche Erfahrung schildern können. Wer mit den Kampagnen durch ist, was je nach Schwierigkeitsgrad gut dreißig bis vierzig Stunden dauern kann, darf sich noch im Herausforderungs- oder Multiplayer-Modus austoben. Im ersteren stehen wir ohne Verstärkung da und müssen unsere Stellung gegen Wellen an anrückenden Feinden abwehren, während wir im Multiplayer alle Freiheiten und Möglichkeiten auskosten können. Egal ob gegen künstliche Intelligenz oder menschliche Mitspieler, auf den sechs verschiedenen Karten, die jeweils Platz für zwei, vier und sogar sechs Spielern bieten, gibt es genug für uns zu erobern.
Im Fokus jeder Schlacht stehen dabei die teils riesigen Dieselpunk Mechs, die Iron Harvest das Besondere Etwas verleihen. Da ist es keine Überraschung, dass jede Fraktion über ein großzügiges und vor allem abwechslungsreiches Arsenal verfügt. Damit haben wir für jede Situation und jede Taktik die passende Blechbüchse zur Hand. Unsere eigene Infanterie wird gut unterstützt durch die flinken Varianten, die mit MG-Feuer feindliche Truppen unterdrücken oder mit ihren Kanonen andere Mechs jagen. Wer wortwörtlich direkt mit dem Kopf durch die Wand brechen will, setzt auf die ganz schweren Jungs. Wie wäre es z.B. mit einem mobilen Bunker auf vier Beinen, der unsere Defensive direkt vor die feindliche Basis verlegt oder einem haushohen Läufer, der quasi nur aus Haubitzen besteht, die alles vor ihm in Schutt und Asche legen? Gerade die größeren Kolosse können ohne Probleme durch zivile Gebäude stampfen und somit in dicht besiedelten Städten für die eine oder andere Abkürzung sorgen. Doch sind diese laufenden Festungen auch nicht unverwundbar, ganz im Gegenteil. Schicken wir einen dieser Prachtexemplare ohne die nötige Unterstützung in ein Gefecht, kann auch die imposante Bewaffnung nichts mehr bringen. Denn in Iron Harvest hat jede Einheit eine Schwachstelle, die ausgenutzt werden will. Ähnlich wie dem Schere-Stein-Papier-Prinzip, welches Command & Conquer: Generals und Homeworld unter Echtzeit-Strategiespielen groß gemacht hat, sollten wir immer schauen, dass wir für das aktuelle Problem die passende Lösung haben. Fußsoldaten werden durch Flammenwerfer in wenigen Sekunden geröstet, Mechs jeder Größe sollten einen Bogen um Feldkanonen machen und gegen diese wirken im Gegenzug Artillerieschläge oder Raketenangriffe aus der Ferne wie Sonnenlicht bei einem Vampir.
Um all diese Werkzeuge des Todes überhaupt bauen zu können, brauchen wir eine Basis und vor allem ausreichende Mittel. Der Basisbau fällt dabei relativ übersichtlich aus, denn wir verfügen nur über ein Hauptquartier, sowie eine Kaserne und eine Werkstatt, die jeweils Soldaten und Mechs für uns produzieren. Als Verteidigungsoptionen stehen uns dabei Bunkeranlagen sowie Sandsäcke, Stacheldraht und Anti-Fahrzeug-Minen zur Verfügung. Vorausgesetzt wir haben genug Ressourcen auf dem Konto. Auf den Karten finden wir regelmäßig Vorräte, die unsere Einheiten einsammeln können, aber auch Minen und Ölpumpen wollen von uns eingenommen werden, die uns danach einen konstanten Fluss an Eisen und Öl liefern. Im Gegensatz zu anderen Genre-Kollegen, können diese Quellen zwar nicht nach einer Zeit ausgeschöpft werden, aber setzt die gegnerische K.I. alles in Bewegung, um uns diese wieder streitig zu machen. Kein Problem, wenn wir genug Einheiten hätten, um jeden Meter zu verteidigen. Durch das eher niedrig angesetzte Maximum unserer Truppenstärke, wird das erobern, halten und notfalls zurückerobern von wichtigen Punkten aber zum regelmäßigen taktischen Balanceakt.
In der Kampagne haben wir in der Regel ein Bevölkerungslimit von 64. Das klingt im ersten Moment nach viel, aber diese Zahl steht nicht für jeden Soldaten und jede Maschine einzeln, sondern kann dies stark variieren. So kostet uns ein normaler Schütze schon einmal alleine drei Punkte, während schwere Infanterie und leichte Mechs vier benötigen. Wer dann noch ganz schwere Geschütze auffahren will, muss ganze fünf Punkte pro Einheit opfern, was unser Limit recht schnell auf bröselt und selbst Bunkeranlagen und Minen nehmen uns einen Punkt ab.
Somit haben wir in den meisten Missionen eher Platz für zwei anständige Streitkräfte. Eine mit der wir die Karte abarbeiten und die dabei groß genug ist, um jeden Feindkontakt ohne große Verluste zu überstehen. Und eine zweite Armee, die bei uns in der Basis bleibt, um die ständigen Angriffe abzuwehren. Hier die richtige Taktik zu finden und zwischen allen Fronten gleichmäßig erfolgreich zu sein, ist keine einfache Herausforderung und erwartet von uns vor allem vorausschauendes Denken.
Wie bereits erwähnt, legten die Entwickler von King Art Games einen hohen Wert auf die Inszenierung der Geschichte von Iron Harvest, doch auch die innerhalb der Missionen kann der Titel hier punkten. In den unzähligen Gefechten kracht es nicht selten, was für ein ordentliches Effektgewitter sorgen kann. Gerade wenn Duelle zwischen mehren Mechs entstehen, bleibt kein Stein an seiner Stelle und alles wird in Mitleidenschaft gezogen. Ebenso ein Hingucker ist das Art-Design, welches von dem polnischen Künstler und World of 1920+ Schöpfer Jakub Rózalski mit entworfen wurde, der die Verschmelzung zwischen dreckigen Dieselpunk und der schönen Natur Europas auf den Punkt gebracht hat. Für den finalen Gesamteindruck sorgt der Soundtrack aus der Feder des dreiköpfigen Komponisten-Teams Music Imaginary, welche die unterschiedlichen Themen des Spiels sowie die packende Action wunderbar untermalt haben.
Iron Harvest erscheint am 1. September für PC (Steam, GOG.com, Epic Games Store), Umsetzungen für PS4 und XBOX One sind zu einem späteren Zeitpunkt geplant. Getestet wurde die Steam-Version.
(getestet von Para)