SEGA hat kürzlich die beiden Dreamcast-Klassiker Shenmue I und II für PS4, XBOX One und PC neu aufgelegt. Philipp Scharlemann, einer der größten Shenmue-Fans Deutschlands und gleichzeitig Inhaber der Fanseite Shenmue.de, hat sich das Ganze für uns angeschaut. Wieso es nie einen besseren Zeitpunkt gegeben hat, um in diese berühmte Reihe einzusteigen, zeigt der folgende Artikel.
„The story goes on…“ – nein damit meine ich nicht nächstes Jahr, wenn mutmaßlich Shenmue III tatsächlich erscheinen wird. „The story goes on…“ stand 2001 auf meinem TV-Bildschirm, als ich zum ersten Mal Shenmue II auf Dreamcast beendete und auch wenn der kommerzielle Tod des Dreamcasts eigentlich zu diesem Zeitpunkt schon durch Segas neue Firmenausrichtung und der Ankündigung von Softwareentwicklung für alle gängigen Systeme feststand, war ich fest davon überzeugt, dass es weitergeht. Nur wann? Nun, da wurde nicht nur meine Geduld ganz schön auf die Probe gestellt.
Als 2015 auf Sonys E3-Pressekonferenz völlig überraschend ein Crowdfunding für Shenmue III angekündigt wurde, hatte die niemals stumme und immer aktive Fanszene einen sensationellen Teilerfolg errungen. Die Beharrlichkeit und die immer wieder neu erfundene Kreativität dabei, das Shenmue-Franchise nicht nur künstlich zu beatmen, sondern am Leben zu halten, machte sich bezahlt. Klar, die beiden Shenmue-Klassiker waren zum Release bahnbrechende Titel, die grafisch völlig over the top und vielleicht sogar für damalige Verhältnisse hier und da ein wenig überambitioniert waren und die sich gut aber halt nicht gut genug verkauften, um ihre Kosten zu decken. Darüber hinaus war nun auch noch wahnsinnig viel Zeit ins Land gegangen. Viele Elemente waren für Spieler, die nie Shenmue gespielt hatten oder vielleicht auch nie eine Dreamcast besaßen, durch andere Titel inzwischen völlig normal und gleichzeitig war vielen Shenmue höchstens vom Namen her bekannt. Und auch nicht jeder hatte damals Shenmue II gespielt, das in Amerika letztendlich sogar Xbox-exklusiv und nicht mehr für Dreamcast erschien. Aber genau das machte wiederum auch eines klar: Über kurz oder lang müssen die Klassiker neu aufgelegt werden! Es ist einfach alles zu lange her.
Wir haben jetzt 2018 und auf Shenmue III warten wir nachwievor, inzwischen aber immerhin mit bekanntem Releasedatum. Von der ersten offiziellen Ankündigung bis zum tatsächlichen Release der Neuauflagen von Shenmue I & II für Xbox One, PlayStation 4 und Steam am 21. August vergingen glücklicherweise dann nur wenige Monate. Oder vielleicht kommen sie einem Shenmue-Fan der ersten Stunde auch nur so verdammt kurz vor, in Relation zu all den Jahren irgendwo zwischen Hoffen, Bangen und sogar manchmal Anflügen von Resignation. Doch laut Ankündigung sollte es sich weder um ein Remake noch ein Remaster, sondern nur um einen HD-Port mit modernisiertem User Interface und leichten Verbesserungen bei der Steuerung handeln. Ist das jetzt eher ein Grund für Ernüchterung statt Euphorie? Nein!
Auch wenn man den Neuauflagen von Shenmue I & II ihr Alter auf den ersten Blick ansieht, sind überaus wenige 3D-Spiele aus dieser Zeit so gut gealtert. Hier kommt es den Spielen durchaus zu Gute, dass sie damals grafisch so sehr ihrer Zeit voraus waren. In der Lebensspanne von Dreamcast sah man grafisch nie etwas Besseres und auch auf der später veröffentlichten und technisch überlegenen PlayStation 2 dauerte es noch sehr lange. Zum Zeitpunkt als Shenmue II auf der Original Xbox vorübergehend ein neues Zuhause fand, war es allerdings schon längst kein State of the art-Technikwunder mehr. Und gerade auf Konsolen wie PS4 und Xbox One und in Zeiten von 4K-Gaming und Virtual Reality brauchen wir über die damalige Überlegenheit nach heutigen Standards nicht weiter diskutieren. Doch das ist die rein technische Betrachtung dieses schon damals von Spöttern oft als „interaktive Grafikdemo“ verschrienen Meisterwerks. Spötter deshalb, weil sich nur durch gute Grafik sicher kaum so ein Kult um dieses Adventure entwickelt hätte.
Dass SEGA und Yu Suzuki damals mit Shenmue irgendwo zwischen berechtigtem Alleinstellungsmerkmal und Größenwahn ein neues Genre namens „F.R.E.E.“ (steht für Full Reactive Eyes Entertainment und sollte die einzigartige Interaktion mit Umgebung und Charakteren deutlich machen) schaffen wollten, lassen wir heutzutage einfach mal im Raum stehen. Auch wenn Shenmue in vielen Dingen den Weg für zukünftige Spiele ebnete, begegne ich selten Stimmen, die Shenmue nicht als Adventure oder Action-Adventure einsortieren würden. Durch die cineastische Präsentation, die Beat’em Up-Einlagen und dem Fokus auf stetiger Verbesserung der Skills, ist diese Schublade vielleicht etwas oberflächlich, aber schießt nicht so weit über das Ziel hinaus, wie die Erfindung eines neuen Genres. Was Shenmue aber auch heute noch so besonders macht und tatsächlich von anderen Spielen abhebt, ist die Art des Storytellings, die verspielte Liebe zu Details, was Spielwelt und das Zeichnen der Charaktere angeht und das schier unendliche Entdecken neuer Kleinigkeiten. Auch wenn die Geschichte letztlich recht linear erzählt wird und es unter normalen Umständen fast unmöglich ist, die sogenannten „Bad Endings“ zu Gesicht zu bekommen, die tatsächlich zu einem Game Over führen, hat man immer wieder Zeit, um zu überlegen, etwas bei einem erneuten Durchspielen leicht anders zu machen. Ich persönlich spiele Shenmue nun seit 18 Jahren und erlebe selbst noch Momente, in denen ich Videosequenzen, Dialoge, Quick-Time-Events, Kämpfe und sogar Gegenstände zum ersten Mal sehe. Manchmal reicht es bereits, auf dem Weg zu einem bestimmten Ziel eine andere Route zu nehmen.
Letztlich kommen wir hier aber auch zu dem Punkt, an dem Shenmue polarisiert. Wem das normale Pacing des Spiels schon zu langsam ist, wer sich auf das faszinierte Erkunden der Spielwelt nicht einlassen mag und wer bei ruhigen Spielpassagen Panikattacken bekommt, der wird das eine oder andere Mal mit dem Weiterspielen kämpfen oder eventuell sogar aufgeben. Shenmue ist nicht jedermanns Sache, aber findet man keinen Zugang, verpasst man leider ein ganz besonderes Spielerlebnis, insbesondere deshalb, weil das Spieltempo in Shenmue II anzieht, durch Zeitspulfunktion für ungeduldigere Zeitgenossen entschärft wurde und auch weit mehr Wert auf das im Erstling etwas stiefmütterlich behandelte Free Fighting im Stile eines Virtua Fighter-Spiels legt. Neueinsteigern kann ich daher nur raten: Erwartet kein Spiel, dass ihr schon hundert Mal erlebt habt und lasst Euch genau deshalb eben nicht abschrecken. Und ganz wichtig: Fallt nicht auf die unzähligen Yakuza-Vergleiche herein. Ja, es gibt ein paar Parallelen, insbesondere dann, wenn man nur zwei Screenshots nebeneinander hält, aber ihr werdet schnell feststellen, dass Yakuza sich von Grund auf weit weniger ernst nimmt, als es Shenmue tut. Yakuza ist eine großartige Spieleserie, aber es gibt keinen Automatismus am Ende beide zu mögen.
Shenmue gibt dem Spieler auf eine andere Weise Freiraum, als es ein moderner Open World-Titel tut, das muss man sich bewusst machen. Der sehr realistisch abgebildete Tagesablauf in einer Kultur, in der ich mich im Prinzip gar nicht auskenne, hat mich damals aber von der ersten Sekunde an total fasziniert. Wenn das Spiel verlangt, erst in ein paar (virtuellen, nicht Echtzeit-)Stunden zu einem bestimmten Ort zurückzukehren oder zu einer Verabredung aufzutauchen, dann solltet Ihr diese Zeit genau dafür nutzen, wofür das Spiel sie Euch gibt: Entdecken! Shenmue stammt von 1999, eine Blaupause für Open-World-Spiele gab es nicht und schon gar keine schnell lizensierbare 3D-Engine. Jedes Detail in Shenmue ist handgemacht und neben den Aktivitäten, wie der Spielhalle, dem Ausbauen der Kampfsportfähigkeiten oder dem Erweitern der Sammelfigürchen, wollte das Spiel teilweise auch, dass du es dir schlicht und einfach anschaust. Kaum jemand spielt Shenmue und erwischt sich nicht kurze Zeit später dabei, sich im Internet die echte Dobuita Street in Yokusuka anzuschauen oder nachzuforschen, ob es in der Kowloon Walled City in Hongkong wirklich so ausgesehen hat, wie das Spiel es darstellt. Diese Liebe zum Detail funktioniert auch heute noch und hat nicht nur bei mir dafür gesorgt, Shenmue ins Herz zu schließen und nie wieder loszulassen.
Unabhängig vom bevorstehenden Release von Shenmue III halte ich die heutige Zeit, in der Spieler wieder bereit sind, abseits von Weltkriegsballerei X und Luxusrennspiel Y, Geld für innovative und außergewöhnliche Spiele auszugeben, die nicht nur Spaß machen, sondern auch einmal entspannen, zum Nachdenken anregen und einfach faszinieren sollen, für den perfekten Zeitpunkt um die Geschichte von Ryo Hazuki erneut zu erzählen. Damals mag Shenmue ein verdammt teurer AAA-Titel gewesen sein, an den Sega alle Hoffnung für die Dreamcast-Konsole und vielleicht sogar die gesamte Firma geknüpft hatte. Heute finde ich, gesellt sich der Titel im Geiste viel besser zu aktuellen Indie-Titeln, die nahezu die einzigen Titel sind, die Segas Experimentierfreudigkeit von damals überhaupt noch nahe kommen.
Fazit:
Wer Shenmue damals nicht gespielt hat, der hat jetzt die Chance, dies ohne Verlust des originalen Charmes auf aktuellen Konsolen nachzuholen – inklusive damaliger Zukunftsmusik wie z.B. Achievements. Wer aus irgendeinem Grund damals Shenmue II nicht mehr weiterverfolgt hat, kann jetzt die Erinnerungen an Teil eins auffrischen und sich in den Tiefen Honkongs regelrecht verlieren. Wer plant, im nächsten Jahr Shenmue III zu spielen, der sollte sich sowieso nicht mit einer Zusammenfassung der Story oder einem potentiellen Digest Movie in Shenmue III zufrieden geben und bedenkenlos zuschlagen! Der Umfang der beiden Titel ist auch heute noch schier gigantisch und der Preis mehr als fair. Solltet Ihr den Cliffhanger am Ende von Shenmue II nicht kennen, dann würde ich Euch sogar liebend gern zur Challenge herausfordern, beide Titel durchzuspielen und mal zu versuchen nachzuempfinden, Ihr wärt mit diesem Ende bereits im Jahre 2001 konfrontiert worden. Ich und jeder andere Shenmue-Fan freut sich bereits jetzt auf Euer Mitgefühl. We’ve come a long way. Und dennoch bleibt mir abschließend nur eines zu sagen: Es ist eine wunderbare Zeit Shenmue-Fan zu sein – oder zu werden!
(geschrieben von Philipp Scharlemann)